Verlangen

In meiner Erinnerung existiert sie weiterhin: eine Version zweier Körper, die einander begehrten, um der fehlenden Nähe ihres Inneren Abhilfe zu schaffen. Eine Chance, sich Stück für Stück bewusst zu werden, dass es jemanden gab, der einen verstand.

Dieser Jemand war Valeria und das hellste an ihrer Kleidung waren die weißen Streifen ihrer Old Skool Vans, die sie jeden zweiten Tag durch schwarze Converse mit weißen Schnürsenkeln ersetzte. Als ich ihr das erste Mal begegnete, sah ich in ihren hellgrauen Augen, dass aus uns mehr werden würde als zwei Individuen, die im Wartezimmer beim Arzt nebeneinander saßen.

Ich humpelte in die Gemeinschaftspraxis, da ich mich am Vormittag an einem Metallteil gestoßen hatte, weil ich beim Fotografieren eines Kutschenfahrers meine Umgebung ausblendete. Es waren zwei Plätze frei, einer neben ihr, der andere neben einem älteren Mann, der nicht aufhörte zu husten.

Ich nickte ihr zu, bevor ich mich setzte. Sie hatte einen Fuß auf die Sitzfläche ihres Stuhles gestellt und kaute Kaugummi. Ihr Gesicht war blass und ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie schob entweder das Septum in ihrer Nase hin und her, kratzte sich am Handrücken oder drehte einen schwarzen Ring an ihrem Finger. Als sie mit ihren Haarsträhnen spielte, stieg der Geruch von grünem Apfel in meine Nase.

Ohne zu überlegen sagte ich: „Hallo“, als ich tiefer in meinen Stuhl sank. Sie sah durch mich hindurch, als würde ich auf der Straße an ihr vorbeigehen, starrte stattdessen auf meine Kamera, die ich in meiner Tasche verstaute. Fünf unauffällige Blicke meinerseits später, als ich in das Behandlungszimmer gerufen wurde, flüsterte sie: „Penner.“

Mit dem Rezept für eine Salbe, Schmerzmittel und dem Rat meinen Fuß zu schonen, trat ich wieder in den Wartebereich, in dem ich nur den alten hustenden Mann wieder erkannte. Ich trat vor die Tür, packte meine Kamera aus, zündete mir eine Zigarette an, schoss ein paar Fotos und rauchte vor mich hin, als eine Frauenstimme hinter mir fragte: „Hast du mal Feuer?“

Ich drehte mich um. „Klar“, antwortete ich und zündete ihre Zigarette an. Sie hatte ihre Jacke ausgezogen, die zuvor ihre tätowierten Arme verdeckte. Auf ihren Handgelenken befanden sich zwei Motten, an ihren Ellenbogen Spinnennetze. Motive von Totenköpfen dazwischen. Sie fing meinen Blick ein und sagte: „Willst du sie fotografieren, oder warum starrste so?“

„Ich fotografiere ohne bemerkt zu werden.“

„Also doch ein Spanner?“ Ich beobachtete, wie sich ihre Mundwinkel anhoben.

„So ungefähr.“

„Dann los, fotografiere mich.“

„Wenn du mich ignorierst.“

Sie wandte den Blick von mir ab, zog an ihrer Zigarette und gab mir das Gefühl, unsichtbar zu sein.

Ich fotografierte sie aus verschiedenen Perspektiven: rauchend, auf einen Punkt starrend, in Gedanken, den Arm vor ihrer Brust verschränkt, den andern aufgestützt. Ich fing einen Blick mit einer Mischung aus Stolz, Sehnsucht und einer Stimmung ein, die ich nicht deuten konnte. Diesen Ausdruck hatte ich schon bei anderen Menschen wahrgenommen und fotografiert. Als ich vor vier Jahren nach Wien zog, sah ich ihn zum ersten Mal so regelmäßig, dass ich versuchte, ihn ausgiebig zu studieren. Jetzt, da er mir wieder begegnete, war ich mich sicher, dass ich kurz davor war ihn zu verstehen.

Ich ging zu ihr zurück und zeigte ihr die Fotos.

„Die sind gar nicht mal so schlecht.“

„Fürs erste Mal geht das schon.“

„Profi oder Hobby?“

„Keines von beidem.“

Sie verengte ihre Augen. „Na irgendwas muss es ja sein.“

„Irgendwas zwischendrin.“

„Wenn ich das meinen Kunden erzähle, erklären die mich für verrückt.“

„Was machst du?“

„Ist das nicht offensichtlich?“

Ich zuckte mit den Schultern, spielte an meiner Kamera.

„Prostituierte natürlich. Wieso würde ich sonst mit dir sprechen?“

„Achso, ich dachte schon. Jetzt bin ich aber erleichtert.“ Ich drehte weiter an dem Einstellrad meiner Leica, musterte sie, um zu erkennen, was sie damit bezweckte.

„Wie viel?“

„Kommt drauf an wie lange. Tagespauschale liegt bei 1050 Euro. Bei Kunden die ich gut kenne 750 Euro.“

„Ich dachte, das wird nach Stunden abgerechnet?“

„So was nehme ich gar nicht mehr an.“

Ich öffnete meinen Mund.

„Ich muss dich leider enttäuschen, bin für die nächsten Monate ausgebucht.“ Sie zog an ihrer Zigarette, lächelte, schmiss sie auf die Straße, holte eine Visitenkarte aus ihrer Jacke und trat näher an mich heran. Unter dem Zigarettenqualm roch sie wie ein verkohlter Apfelbaum. Sie drückte mir die Karte in die Hand.

„Wusste nicht, dass ihr jetzt auch Visitenkarten verteilt.“

„Mit Online Termin Buchung“, sagte sie, drehte sich um und ging. Ich sah ihr nach, wie sie in engen schwarzen Jeans um die Ecke bog. Als sie weg war fiel mein Blick auf die Karte und ich fing an zu lachen. Beinahe hätte ich ihr geglaubt.

Die Visitenkarte führte mich auf ihre Instagram Seite mit dem Namen Valeria_Artisttattoos. Ich scrollte durch ihre Arbeiten. Feine Linien mit realistischen Elementen. Sie war auf verschiedenen Conventions abgebildet: auf der Gods of Ink in Frankfurt, der Mondial du Tatouage in Paris, aber auch auf der Evergreen Tattoo Expo in Oregon. Bilder mit Größen wie: Nikko Hurtado, Teresa Sharpe, oder das Studio Versatile Arts zierten ihre Seite. Ich klickte auf Folgen und am selben Abend, als ich die Fotografien des Tages durchsah, editierte ich die Fotos von ihr. Das Naheliegendste war, die Bilder ins Monochrome umzustellen, entschied mich aber dagegen, verstärkte stattdessen die Farben im Hintergrund, tauchte alles in einen warmen Ton, sodass sie sich von der Kulisse abhob. Sie war der Kontrast in einer bunten Welt, unverrückbar, wie ein Fels.

Ich druckte die Fotos aus, steckte sie in eine Mappe und lief am nächsten Tag, bevor das Studio schloss, zu ihr. Es befand sich in einer Seitenstraße im zweiten Bezirk. Ihr Name prangte in Kalligrafie auf einem runden Schild. Sie saß auf einer braunen Bank vor dem Studio mit einer blonden Frau, Piercings an den Augenbrauen, deren linkes Bein rot und geschwollen vom Tätowieren war. Da sie in eine Unterhaltung vertieft waren, blieb ich am gegenüberliegenden Eck stehen. Sie bemerkten mich nicht. Ich zog meine Kamera heraus, knipste ein paar Bilder von ihnen und dreht mich wieder um.

Eine Runde um den Block später verschwanden sie in das Gebäude und nach vier weiteren verabschiedete sich die blonde Frau. Meine Chance. Ich ging zum Studio. Es befand sich in einem Eck, war an beiden Seiten verglast, wodurch man die Rezeption sehen konnte. Ich trat ein. Dunkelgraue Wände, helles Holz, ihr Logo in Neonröhren an der Wand. Im Hintergrund spielte eine Melodic Hardcore Band aus Australien, mit denen ich bereits auf Tour war und lächelte.

„Dachte, du kommst nie.“

„Noch irgendwelche Termine?“

„Jetzt nicht mehr“, sagte sie und sah an ihrem Bildschirm vorbei auf die Mappe in meiner Hand. Ich zog den Umschlag mit den Bildern hervor, legte sie auf den Tresen vor ihr. Sie drehte die Musik leiser.

„Ich hab dich übrigens vorhin gesehen.“

Ich nickte. „Bin ich doch nicht so unauffällig, wie ich meine?“

Sie lachte, ihr Septum wippte auf und ab.

„Die Bilder will ich dann auch.“

„Schau dir erst mal die an.“

Valeria lehnte sich nach vorn, griff nach dem Umschlag, öffnete ihn und sah sich, ohne etwas zu sagen die Fotos an. Sie betrachtete das Bild, in dem sie mit diesem undeutbaren Blick in die Ferne sah, so lange, dass ich nochmals um den Block hätte spazieren können. Ihr Gesichtsausdruck: fast so, als hätte sie eine Seite von sich entdeckt, die sie irgendwann mal verloren hatte. Als sie das Foto beiseite legte erwachte sie aus ihrer Trance und fragte mich: „Willst du eigentlich was trinken? Ich sags aber gleich, ich hab hier keinen Alkohol.“

„Nur ein Wasser.“

„Wasser?“

„Mit Kohlensäure.“

„Oho, okay.“

Sie ging zu einem verglasten Kühlschrank, holte zwei Flaschen Wasser und stellte sie auf den Tresen. Dann vertiefte sie sich wieder in die Bilder, als wäre ich Luft. Kurz überlegte ich zu gehen, doch ich blieb wie festgefroren stehen und beobachtete sie dabei, wie sie mit ihren schwarzen Haarsträhnen spielend etwas in den Bildern suchte. Beim letzten Foto sah sie zu mir. Ihre grauen Augen jetzt beinahe blau.

„So hat mich noch niemand fotografiert.“

„Du meinst wie ein Spanner?“

„Nein, ich meine so“, sie rollte ihre Lippen aufeinander, „intensiv.“

„Du kannst sie gerne behalten.“

Sie lächelte mich an, nickte. Dann öffneten wir unsere Wasser, ich setzte mich neben sie und wir unterhielten uns. Ich erfuhr, dass sie das Studio erst vor zwei Jahren eröffnet hatte, sie zuvor in einem anderen Tattoostudio tätig war und dass sie davor Mediendesign studiert hatte.

„Dann lebst du schon lange hier?“

„Seit neun Jahren. Lange genug also, du?“

„Vier Jahre.“

„Anfänger“, sagte sie, lachte und legte dabei ihre Hand auf meinen Unterarm. Die Stelle auf meinem Arm kribbelte. Wir saßen auf zwei Barhockern nebeneinander hinter der Rezeption. Ihr Logo in Neonröhren warf einen goldenen Schatten auf die graue Wand hinter uns.

„Was hat es jetzt mit deinem halb professionellen, oder was auch immer, fotografieren auf sich?“

„Ach, ich bin eigentlich Street Fotograf und um mich über Wasser zu halten, lass ich mich von Bands für ihre Touren oder Clubs buchen. So was halt.“

„Machst du auch Hochzeitsfotos oder Paar-Shootings?“, fragte sie mich lachend.

„Schau mich an, denkst du, ich mache Hochzeitsfotos?“

Sie scannte mich, dann sagte sie: „Also vorstellen könnt ich´s mir schon.“

„Sehr witzig.“

„Wie bist du dazu gekommen von Wildfremden ohne ihr Einverständnis Fotos zu machen?“

„Erzähle ich dir ein anderes Mal.“

„Wer sagt, dass es ein anderes Mal gibt?“

„Ich dachte, du würdest die Fotos auf der Bank von vorhin auch wollen.“

„Scheint so“, sagte sie, trank einen Schluck und linste auf die Bilder.

„Na komm schon, erzähl´s mir. Oder ist es soooo besonders?“

„Nein, eigentlich nicht. Ich hab mich einfach nur für Fotografie interessiert und bin dann über Umwege dazu gekommen, das den ganzen Tag machen zu wollen.“

„Wow, echt spannend. Über Umwege?“

„Ich hab mein Medizinstudium geschmissen.“

„Oh, das hört sich schon interessanter an.“

„Meine Mutter ist Chirurgin, mein Vater Urologe.“

Sie schlug die Hände vor sich zusammen, ihr Septum wippte. „Okay, jetzt hast du mich, aber das kannst du mir wirklich ein anderes Mal erzählen. Familiendrama, nein Danke.“

Ich hob meine Wasserflasche, stieß mit ihr an und nickte ihr zu. Nach einer weiteren Flasche und nachdem es dunkel geworden war, glitt sie von ihrem Hocker. „Ich schließ jetzt mal den Laden.“

Ich nahm meine Mappe. „Rauchen wir noch eine?“

Sie nickte, nahm ihre Tasche, die Fotos und klemmte sie sich unter den Arm. Als wir draußen standen gab ich ihr eine Zigarette, uns beiden Feuer und wir rauchten im Schein der Laterne, von der ich Fotos in die Nacht schoss.

„Du kannst jetzt mit dem Angeben aufhören.“

„Bist du schon beeindruckt?“

„Träum weiter.“

„Ah gut, dachte schon, ich müsste weiter zeigen, was ich nicht kann.“ Dann knipste ich zwei Bilder von ihr, wie sie mit den Fotos unterm Arm und der Zigarette in der Hand vor ihrem Laden stand und mit im Laternenlicht glänzenden Augen anlächelte. Ich wollte ihr Lachen verewigen, das meinen Körper wärmte und mich schneller atmen ließ.

„Ich hör schon auf, versprochen. Du siehst nur so gut aus gerade.“

„Gerade?“

„Zigaretten stehen dir einfach.“

Sie nahm einen weiteren Zug, schnippte sie auf den Boden, trat sie aus und bewegte ihren Arm mit den Fotos vor und zurück. „Magst du mich nach Hause begleiten? Ich hab das Gefühl, die Bilder verknittern zu stark, wenn ich sie den ganzen Weg so trage, und du hast ja deine Mappe dabei.“

„Klar, kein Problem.“

Ich steckte die Bilder zurück in die Aktentasche. Zusammen spazierten wir durch die schwüle Nacht, mein T-Shirt klebte an meinem unteren Rücken. Wir beobachteten, wie Nachtfalter um Laternen schwirrten, um diese Inseln des Lichts, liefen an Schaufenstern vorbei, eingebettet in die Farben der Stadt: neongelb, grelles Schaufensterlicht, dunkelblaue Leuchtreklamen. Als wir auf der Rolltreppe zur U-Bahn standen, ich eine Stufe unter ihr, kam uns ein Luftzug entgegen, der ihr T-Shirt nach oben schob und mir eine schwarze Sonne um ihren Bauchnabel offenbarte. Valeria lies ihr T-Shirt mit der Aufschrift: Black Sabbath im Wind flattern und als wir in der U-Bahn saßen, legte sie ihren Arm in meinen und lehnte sich zurück. Ich betrachtete ihre tätowierten Unterarme, auf denen ich dezente Narben entdeckte, die von ihren Tattoos verschleiert wurden.

Am Volkstheater stiegen wir aus, folgten den Treppen nach oben und gingen zwei Straßen nahe der Neubaugasse in ein Haus. Eine in Kreisen führende Steintreppe führte zu ihrer Wohnung. Ihre Hand in meiner, als wäre sie nie wo anders gewesen. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb. Ihre Hand war trotz ihrer zierlichen Statur kräftig. Sie besaß lange schmale Finger, die sich um meine eher breite Hand legten, sie kühlten und gleichzeitig auf meiner Haut prickelten. Vor einer weiß glänzenden Tür angekommen gab ich ihr die Fotos.

„Kann ich die digitalen Bilder auch noch haben?“

„Das auch noch?“ Ich grinste, sie kam einen Schritt auf mich zu. „Dann muss ich ja bald noch ne Rechnung stellen.“

„Mach halt.“

In meinen Händen sammelte sich Schweiß, in meine Füße stieg Kälte.

„Hast du nicht was vergessen?“

Meine Beine schwer wie Beton. Valerias Oberlippe zitterte. Ihr Blick wechselte zwischen meinen Lippen und Augen hin und her. Wenn ich die Augen schloss war es, als stünde ich unter einem Apfelbaum, die Sonne goss sich durch die Blätter auf mein Gesicht. Meine Füße wurden leichter, mein Knie streifte ihren Oberschenkel, ich fuhr ihr durchs Haar, dann berührten sich unsere Lippen und es war, als würde ich schweben.

Sie zog mich näher an sich, kitzelte mich im Nacken, drückte ihre Lippen fester auf meine. Ihr Haar duftete nach Herbst, ihre Zunge schmeckte süß. So standen wir da, meine Hand auf ihrer Taille, die zu ihrem Po rutschte, sie fester an mich presste, bis sie sich von mir löste und fragte: „Magst du nicht mit rein kommen? Vielleicht kannst du mir ja dabei helfen, die Fotos aufzustellen?“

„Ich kanns versuchen.“

„Aber die Kamera bleibt aus.“

Ich nickte, verstaute die Kamera in meinem Rucksack und folgte ihr in die Wohnung.

Als sie ihre Jeans auszog und ihre mit Tattoos bedeckten Beine freilegte, die wie glatte schwarze Gemälde für mich waren, wusste ich, dass ich diese Beine kosten musste. Ich musste jeden Winkels ihres Körpers erkunden. Zu meinem Erstaunen trug sie einen gelben Slip, den ich ihr von den Hüften strich. Als sie nackt vor mir stand und mich ansah, war er wieder da, dieser Blick.

Kleine Feuerwerke zündeten in mir. Wir sprachen nichts, versuchten uns überall gleichzeitig zur berühren, um so viel wie möglich von der Nähe des anderen aufzunehmen. In dieser Nacht war sie eine Göttin für mich, die mir neues Leben einhauchte, mit ihrem schwarzen Haar, das mein Gesicht umschloss und mich für die Außenwelt abschirmte. Als sie kam und ihr Unterleib bebte, stürmte diese Beben durch mich hindurch, rüttelte alles auf, was ich die Jahre in mir versucht hatte zu verbergen. Dieses Gefühl, Haut auf Haut wurde unsere Droge, der wir uns hingaben, bis ich diesen Geruch des Apfelbaums nicht nur auf meiner Haut hatte, sondern ihn auch spürte.

Ihr Blick während dieser Nacht wandelte sich. Obwohl wir uns nicht gut kannten, sagte er, was jeder Mensch gerne empfinden würde: Ich sehe dich.

Wir schliefen zwei Stunden, ihre Hand auf meinen Körper, ihn streichelnd, als ihr Wecker klingelte. Sie stöhnte auf, nahm die Hand von mir, fuhr hoch zu meinem Gesicht. Da war er wieder. Diese weit aufgerissenen Augen, die feinen Fältchen um sie, die die auslaufende Augenpartie zu einem Lächeln formte. Mein Haar klebte in meinem Nacken. Sie sagte, sie würde duschen. Ich blieb liegen, sah ihr nach.

Unser Frühstück bestand aus zwei Tassen Filterkaffee, die sie in eine japanische Karaffe brühte. Wir tranken ihn aus glasähnlichen Bechern. Die Wohnung wirkte so, als würde sie kaum Zeit in ihr verbringen: Alles stand an seinem Platz, nichts lag auf dem Boden, die Decke auf dem Sofa zusammengelegt auf der Lehne, doch die gräuliche Staubschicht log nicht. Ihr Zuhause besaß hohe Decken und zu meinem Erstaunen war nicht alles schwarz, sondern aus dem selben hellen Holz, wie in ihrem Studio. Valeria wirkte in den weißen Wänden wie ein Fremdkörper und für einen Moment dachte ich, es wäre nicht ihre.

Die Hitze des Kaffees brachte meine Fingerkuppen zum Pochen. Das Gebräu legte sich über meine Zunge, hinterließ einen Geschmack, als würde ich in eine Grapefruit beißen.

„Ist gut, nicht war?“

Ich nickte, setzte den Becher wieder ab und schob ihn hin und her.

„Ich muss dich leider gleich wieder rausschmeißen. Hab um halb neun einen Termin mit einem Kunden.“

„Okay, klar.“

Ich trank meine Tasse leer und zögerte, ihr die Frage zu stellen, die den ganzen Morgen in meinem Kopf ihr Unwesen trieb. Als sie in ihre Chucks schlüpfte und mir den Schuhlöffel in die Hand drückte, stellte ich sie: „Sehen wir uns wieder?“

Sie hielt inne, sah mich an: „Kommt drauf an.“

„Auf was?“

Sie atmete laut aus. „Ob du damit klarkommst.“

„Mit was klarkommen?“

„Dass es nur Sex ist.“ Stechen in meiner Magengegend.

„Klar, klar ist es das. Ich wollte ja auch nichts anderes.“

„Gut, denn meine Ehe hat Vorrang.“

Ehe, welche Ehe? Ich sah sie an, sie schien zu verstehen, ging zum Schlüsselkasten neben der Tür. Sie zeigte auf ein Bild, in dem sie und ein ebenfalls tätowierter Typ mit blonden Strähnen in die Kamera lächelten, er ihr einen Kuss auf die Wange gebend. Gestern hatte ich das Bild übersehen.

„Du meinst?“

„Keine Sorge, das ist okay. Offene Ehe, alles cool. Das hab ich dir doch gestern schon erzählt.“

Ich nickte. „Ja klar, sorry.“ Ein Stich, wie von einer glühenden Nadel fuhr in meinen Magen. Ich bekam keine Luft mehr, wollte schleunigst aus der Wohnung.

„Das ist schon noch okay für dich, oder?“

„Auf jeden Fall, alles cool.“

Sie lächelte. „Nächstes Mal treffen wir uns halt bei dir.“

„Klar, gerne.“

Sie öffnete die Tür. Ich hatte Schwierigkeiten einen Fuß vor den anderen zu setzen, meine Arme hingen unkontrolliert an mir herunter. Als wir auf der Straße standen, sagte sie: „Du musst mir nur eines versprechen. Komm nie einfach hier her. Wir hatten ausgemacht keine Dates in unserer Wohnung.“

Ich nickte.

„Sag es, wenn das weitergehen soll.“

„Keine Sorge, ich verspreche es dir.“

„Gut.“

Sie strich mir über die Schulter, drehte sich um und wandte sich von mir ab. Ich blieb zurück mit ihrem Geruch und dem Gefühl ihres Körpers auf meiner Haut. Den Tag über wandelte ich ziellos in der Stadt umher, hielt meine Kamera vor mich schoss aber keine Fotos. Manchmal dachte ich, sie stünde neben mir, blickte mich dann um, nur um eine andere Person in einem schwarzen T-Shirt zu sehen. Was war mit mir los? Hatte ich mich etwa in sie verliebt? So schnell? Nein, das konnte nicht sein. Ich sagte zu mir, dass es die mangelnde Nähe war, die mich ausschließlich an sie denken ließ.

Ehe, bei diesem Wort stieg Magensäure in meine Speiseröhre. Mittlerweile stand ich auf dem Stephansplatz. Eine Touristengruppe aus Amerika drängte sich an mir vorbei, deren Stimmen in meinen Ohren klingelten. Dann sprach ich es aus: „Warum hat sie mir nur nichts gesagt?“ Keiner der weißen, in verwaschene Kappen gehüllten Touristen blickte auf. Hatte sie etwas gesagt und ich hatte es einfach ignoriert? „Hey übrigens ich führe eine offene Ehe, aber ficken ist okay, alles cool.“ Ich dachte an ihren Ring. Ich Idiot.

„Alles cool“, sagte ich vor mich hin, „es ist alles cool.“

Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen. Die Anzeichen hätte ich erkennen müssen. Ich hätte sie fragen sollen, von wem der Rasierapparat in ihrem Bad und das Bild im Eingang war, von dem ich mir einredete, es sei ihr Bruder. Ich hatte nur ihren nackten Körper vor Augen. Das war alles, was in dem Moment zählte. Ich kümmerte mich nicht um die Konsequenzen, die nicht sie und ihren Mann, sondern mich betrafen.

Wie sehr wünschte ich mir, mit jemandem über diese verstrickten Gedanken zu sprechen, um sie einzeln zu entwirren. Ich vermisste nicht nur das Gefühl, sondern diesen Rausch, diese Zugehörigkeit zu einem Menschen, die in den letzten Jahren verloren ging, weil ich mich von allem zurückzog. Es war eine ähnliche Art von Rausch, der mich erfasste, wie früher, als ich noch mit meinen Freunden unterwegs war und wir dachten, die Welt spiele nach unseren Regeln.

Jetzt hatte ich niemanden mehr, dem ich mich anvertrauen konnte. Ich besaß zwar noch Freunde, doch waren das eher Kollegen aus der Fotobranche, als Personen, mit denen ich meine tiefsten Gefühle teilte. Ich war für keine Person der beste Freund und hatte selbst niemanden, der dies für mich war.

Ich dachte an all die Freundschaften, die in der Kindheit und im Jugendalter geschlossen werden, die so rein und unbeschädigt sind, wie die sonnigsten Erinnerungen an diese Zeiten. Jetzt als Erwachsener kommt es mir vor, dass es so etwas nur selten bis gar nicht mehr geben kann, da die Leichtigkeit der Jugend längst von Verpflichtungen und Arbeit erstickt wurde. Zu spät bemerkte ich, dass diese Freundschaften mir entglitten, wie einem das Wasser durch die Finger rinnt. Dieser Hunger, dieses Verlangen nach Kontakten, die unter die Haut gehen, wurde zu diesem Zeitpunkt nur mit Valerias Berührungen gestillt.

Drei Tage später lag sie nackt ausgestreckt auf meinem Bett. Ich saß benommen an der Bettkante, ungläubig, dass ich es wieder getan hatte. Mein Körper überzogen feine Schweißtropfen. Ich trank einen Schluck Wasser, reichte ihr das Glas. Sie trank einen Schluck, stellte es neben sich ab und gab mir mit dem Zeigefinger zu verstehen, dass ich wieder zu ihr kommen sollte. Ihr Körper überzog eine Gänsehaut, als ich sie küsste, meine Zunge tiefer in ihren Mund schob und sie mir auf die Lippen biss. Ich denke, zu diesem Zeitpunkt wusste sie bereits, dass ich ihr verfallen war.

Als sie mir zuvor schrieb, ob ich nicht Lust habe, mich mit ihr zu treffen, hätte ich nur antworten müssen, dass ich sie nicht mehr sehen wollte. Doch als ich ihren Namen auf meinem Display sah und ihre Nachricht laß, verselbstständigten sich meine Hände und antworteten: „Ja“ und schickten ihr meine Adresse.

Die Aussicht auf ihre Nähe verwandelte mich in eine Version, die ich nicht kannte.

„Darf ich ein Foto von dir machen?“

Sie hielt meinem Blick stand, folgte ihm zu der auf dem Tisch liegenden Kamera und sagte ja. Valeria zog die Decke so über ihren Körper, dass nur ihre Hüfte, ein Bein und ihr Dekolleté zu sehen waren. Goldenes Licht fiel von den Fenstern auf ihren Rücken, umschmeichelte ihre Figur und warf Schatten auf das Paket. Es war ein Bild so schön, dass meine Sicht verschwamm und ich mir mit meinem Unterarm über das Gesicht wischte.

Mit diesem Bild würde ich später einen Fotowettbewerb gewinnen: „Unbekannte Geliebte.“ So unrecht hatte ich mit dem Titel nicht. Obwohl wir uns körperlich so vertraut waren, wusste ich so gut wie nichts über sie. Wer ihre Freundinnen waren, was sie tat, wenn sie allein war oder wie sie sich fühlte, wenn es regnete.

Heute weiß ich, dass ich sie besser kannte, als mir bewusst war. Ihre unscheinbaren Angewohnheiten, die ich in meinen Erinnerungen sammelte wie Glücksmünzen. Wenn sie neben mir schlief, legte sie eine Hand auf mir ab, ich aber nicht auf ihr, weil es sie störte. Sie lachte laut und ungehemmt, sodass sie Blicke anzog, die ein Lächeln bei den Personen zur Folge hatte. Bei jeder automatischen Schiebetür, die sie durchquerte, gab sie einen zischenden Laut von sich. Wenn sie vom Bett aufstand, strich sie immer die Bettdecke glatt. Meine Lieblingsmünze waren die kleinen Flätchen um ihre Nase, die bebten, wenn sie mich lächelnd ansah.

Auch fuhr sie die Ränder ihrer Kaffeetasse nach, nachdem sie getrunken hatte und sah mich mit ihren hellgrauen Augen an, die ausdrückten: Ich weiß, dass das doof ist, aber ich machs trotzdem. Ich konnte mich verlieren in ihren Augen, ihren Gewohnheiten und Berührungen, die alles Logische in mir zum Erliegen brachten. Das alles waren nur Beobachtungen, die an der Oberfläche ihres Selbstes kratzten, Kleinigkeiten, die mir unter die Haut fuhren, wenn ich sie dabei beobachtete.

„Gehen wir was essen?“, fragte ich sie, als ich mich aufrichtete und meine Leica neben das Bett legte.

Sie schlug ihre Haare aus dem Gesicht, strich über ihre Lippen und klopfte auf den Platz neben sich. Ich setzte mich, sie gab mir einen Kuss, biss mir in meinen Nacken.

„Ich weiß, was du vorhast.“

„Was denn?“

Sie lachte kurz auf, atmete mir weiter in meinen Hals. „Es hat keinen Sinn.“

„Musst du nichts essen?“

„Ich verliebe mich nicht in dich.“

„Sicher?“ Sie biss mir ins Ohr.

Ich lachte, schob sie weg von mir, stand auf und zog mich an. „Die Pizza musst du einfach probieren.“

Valeria beobachtete mich, ich konnte ihre kleinen Fältchen um die Nase erkennen, die auf und ab wippten. Dann erhob sie sich und schlüpfte in ihre schwarzen Sachen.

In meiner Straße befand sich ein Italiener, der original neapolitanische Pizza anbot. Der Pizzaofen füllte das halbe Restaurant. Es roch nach Knoblauch, Rotwein, Basilikum und frischem Teig, der bei 485 Grad gebacken wurde. Der Chef Mauricio begrüßte mich mit Handschlag und sagte, ich würde besser aussehen als letztes Mal. Er zog mich an sich und fragte, ob denn die Frau der Grund sei.

„Ohne Frauen sei das Leben sinnlos“, sagte er, küsste die Hand von Valeria, die mich lachend ansah und gab uns einen Tisch auf der linken hinteren Seite. Wir setzten uns auf die Holzstühle, die weiß rot karierte Tischdecke erhellte ihr Gesicht.

„Beinahe so wie in einer Pizzeria in Florenz, in der ich mit meinen Eltern früher immer war.“

Ich lächelte, bestellte zwei Birra Moretti, was sie ablehnte. „Ich trinke nicht. Das heißt nicht mehr.“

Ich nickte, bestellte zwei Orangina, entschuldigte mich. „Nicht so schlimm, kannst du ja nicht wissen.“

Sie strich die Tischdecke glatt, studierte die Karte. „Was empfiehlst du?“

„Ich esse ausnahmslos die Margherita.“

„Hm.“ Sie sah mich über ihre laminierte Karte an.

„Auf eigene Gefahr.“

Sie lächelte. „Okay, ich find´s zwar langweilig, aber ich vertrau dir mal.“

Dann sah sie mich mit ihren Augen an, deren Klarheit mich an einen Bergsee erinnerten. Als wir die Hälfte der Oranginas getrunken hatten, erzählte sie mir, dass sie Regen liebte und sie keine Träume hatte: Sie lebe von Tag zu Tag ohne Enttäuschung. Drei enge Freundinnen habe sie oder auch vier, sie wisse nicht, wo sie da die Grenze ziehen solle und was sie an Tattoos so fasziniere sei die Tatsache, seinen Körper so zu gestalten, wie man es wollte. „Es bedeutet für mich Freiheit. Wir sind zwar alle verschieden und doch irgendwie auch gleich. Aber wenn ich mir Farbe auf die Haut zimmere, dann fühle ich mich geborgener. Wie eine Schutzschicht, einen Menschenfilter.“

Als sie mir das erzählte, kamen bereits unsere Pizzen. Mozzarella, Tomate, Basilikum stiegen mir in die Nase, als ich mir ein Stück davon in den Mund schob. Ich kam jede Woche mindestens einmal hier her, weil es nicht nur meine Einsamkeit stillte, sondern eine Oase der Ruhe in diesem Stück gebackenem Teig existierte.

Sie sah mich an, wie ich mit geschlossenen Augen kaute. Valeria kicherte, ahmte mich nach und atmete vor Begeisterung schnell ein und aus: „Okay, du hattest recht.“

Nach der Hälfte der Pizza brach sie unser Schweigen und fragte: „Ich hab dich nie gefragt, warum du fotografierst.“

Ich trank einen Schluck. Rieb mir mit meinen bröseligen Fingern über die Stirn: „Es gibt zwei Gründe. Irgendwie wollte ich die Menschen immer schon verstehen, gerade wenn sie sich unbeobachtet fühlen, oder in diesen schönen kleinen Augenblicken, die nur wenige Sekunden andauern. Das wollte ich festhalten, beobachten wer wir wirklich sind. Und zum anderen war die Kamera immer ein Mittel, um mich vor anderen zu verstecken. Etwas, an dem ich mich festhalten konnte.“

Sie griff nach meiner Hand, drückte sie. Ihre Augen glänzten, dann aß sie weiter. Nach dem Essen gingen wir wieder in meine Wohnung. Sie sagte, sie könne nicht mehr lange bleiben, gähnte, legte sich auf meine Couch und streckte die Arme von sich. Ich legte mich zu ihr, sie ihre Arme um mich, ihr Kopf auf meiner Schulter ruhend. Sie sagte, in einer Stunde müsse sie aber. „Beobachte mich ja nicht. Du weißt, dass das nicht geht.“ Doch für mich war es längst zu spät.

Der Druck ihres Körpers auf mir, ihrem Atem folgend, der Duft des grünen Apfels. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich auseinanderbräche, falls sie das Interesse an mir verlor. Ich schob den Gedanken beiseite.

Während sie schlief, hob sie ihre Hand und ließ sie auf meine Brust fallen, ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht, küsste sie auf ihren Haaransatz. Ihre Hand, mit den dünnen langen Fingern schlossen sich jetzt enger um meine Taille, dann holte auch mich der Schlaf und mit ihm ein Gefühl der Geborgenheit, als würde es nur uns beide geben.

Nach zwei Stunden wachte ich auf, der Druck ihres Körpers verschwunden. Ich rieb meine Augen, sah mich um, rief ihren Namen. Keine Antwort, nur die Wände, an denen mein Ruf widerhallte. Vor mir auf dem Tisch lag ein Zettel, in einer länglich feinen Schrift, die Punkte auf den Vokalen mit einem x ersetzt, daneben meine Kamera.

Du bist so süß, wenn du schläfst. Heute war sehr schön, ich freu mich schon auf nächstes Mal.

P.S. Kamera

Ein Schwall Insekten brach in mir los, flog in meine Glieder. Könnte es sein, dass? Nein, mach dir keine Hoffnungen. Es wird nie so sein, du darfst sie nicht, aber der Zettel.

Ich hob das Papier an den Rändern mit den Fingerspitzen an und legte es in eine Mappe. Dann schaltete ich die Kamera ein und sah mir die Bilder an, die sie von mir geschossen hatte. Ich lag mit offenem Mund auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht. Röte stieg in mein Gesicht, dann sah ich ein Bild, das sie mit mir gemacht hatte. Ich erkannte wieder diese kleinen Fältchen um ihre Nase, diese Augen, die sich zu einem Lachen formten. Ich drückte auf weiter, dann kam das Bild von ihr im Bett und ich setzte mich sofort an meinen Computer, um sie zu übertragen.

Zwei Tage später sah ich sie wieder. Ich fragte sie, ob ich am Vormittag vorbei kommen könne, was sie mit: „Sehr gerne, um 11:30 Uhr mache ich Pause“, beantwortete. Als ich in das Studio trat, behandelte sie mich wie einen Kunden, ging dann mit mir in ihr kleines Büro rechts neben ihrer Rezeption, das nicht größer als eine Abstellkammer war. Sie schloss die Tür und umarmte mich lange. Ich dachte, meine Sehnsucht nach ihr würde verschwinden, wenn ich sie wieder berühren konnte, doch sie verstärkte sich nur.

Ich küsste sie, ihr Lächeln wärmte mein Innerstes so sehr, dass ich mein T-Shirt ausziehen wollte. Ich zog meine Mappe heraus.

„Dachte das könnte dich interessieren.“ Zunächst zeigte ich ihr die Bilder, die sie von uns gemacht hatte, während ich schlief. Sie nahm sie in die Hand, zeigte auf mich und lachte. „Wie du da aussiehst.“ Valeria verschluckte sich vor Lachen.

„So lustig?“

Sie sah mich mit Tränen in den Augen an. „Du grunzt im Schlaf, weißt du? Das musste ich mir gerade vorstellen.“

Ich grinste, dann sah sie ihr Bild. „Das bin ich?“

Ich nickte. „Wow, ich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

Ihr Blick fiel zu Boden, „Das Bild ist wunderschön.“

„So sehe ich dich. Also nicht nur, doch meistens. Ich würde gerne noch viel mehr Bilder von mir machen, angezogen meine ich.“

Sie betrachtete nochmals das Bild, Gänsehaut überzog ihre Arme. „Und ich würde mich weiterhin gerne von dir fotografieren lassen“, sagte sie und starrte weiter auf die Fotografie. „Das, was du letztens gesagt hast, dass du das Wahre in den Menschen einfangen willst. Das hast du bei mir schon bei den ersten Fotos geschafft. Weißt du, nichts anderes mache ich mit meinen Tattoos auch, ich zeige, wer die Menschen wirklich sind. Ihr Innerstes nach außen gekehrt.“

Ich nickte. „Für mich gibt es zwei Arten von Menschen, diejenigen, die an der Oberfläche bleiben und die, die unter die Haut gehen. In dem Sinne bist du viel mutiger als ich, du trägst einen Teil deiner Persönlichkeit auf der Haut. Ich verstecke mich nur hinter einer Kamera, in der Hoffnung alte bessere Zeiten wieder zu beleben.“

Sie fuhr mir durchs Haar und wir umarmten uns, während sie das Bild hinter mir in die Luft hob, die Augen schloss und ihren Kopf auf die Stelle an meinem Herzen fallen ließ. Sie seufzte, rieb ihr Gesicht kurz an mir. „Welche Art Mensch bin ich für dich?“

Der schrille Klingelton ihres Smartphones riss uns auseinander, nahm mir meine Antwortmöglichkeit. Das Porträt eines Mannes, den ich von dem Bild aus ihrer Wohnung kannte erschien. Sie errötete, nahm ab. Ich hielt den Atem an und verließ reflexartig den Raum. Seine Stimme würde ihn nur noch realer für mich machen. Ich hörte nur sie: „Jetzt, ja klar, ich freu mich voll.“ Dann legte sie auf und trat aus ihrem Büro.

„Du musst gehen.“ Sie legte ihre Lippen aufeinander, ihre Schultern vielen nach unten. Ich nickte, strich ihr erneut übers Gesicht, wollte ihr einen Kuss geben, sie schüttelte den Kopf.

Auf der Straße zog ich meine Basecap auf und lief so schnell um den Block, dass ich außer Atem war und an der Hausecke schräg gegenüber ihres Ladens stehen blieb, bis er kam. Er lief mit seiner übergroßen Kleidung, den tätowierten Armen und den dunklen mittellangen Haaren in einem schlendernden Gang auf sie zu. Ich sah, wie Valeria ihn umarmte, ihr Lächeln war ein anderes als bei mir, ihr Blick wieder dieser Undeutbare.

Für einen Moment hatte ich die Befürchtung, sie warf ihm den gleichen Ausdruck wie mir zu. Bei der Vorstellung, wie er sie berührte, küsste und mit ihr schlief, tanzten schwarze Punkte vor meinen Augen. Ich stützte mich an der Hauswand ab. Dabei war ich der Störenfried, trotz offener Ehe. Er war ihr Mann, für ihn hatte sie sich entschieden, für ihn war sie alles und er für sie, doch ich konnte mich nicht von ihrem Geruch auf meiner Haut befreien.

Immer wenn sie ihre Lippen spitzte, mich dabei ansah, mir mit leicht geöffnetem Mund durchs Haar fuhr, in mein Ohr stöhnte, wenn wir miteinander schliefen oder wie zuletzt einfach nur zusammen auf der Couch lagen, dann war es, als sei mein ganzer Schmerz, all die Einsamkeit vergessen, als würde all das nicht existieren. Sie war ein Mensch, der nicht an der Oberfläche abprallte, sie stach sich in meine Haut.

Nachdem ich sie zusammen gesehen hatte, schlurfte ich geradewegs nach Hause. Ich hangelte mich von Laterne zu Laterne, stütze mich an Wänden ab. Meine Sicht verschwamm. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und als ich in meine Wohnung trat, streifte ich all meine Kleider ab und stellte mich vor den Badezimmerspiegel mit einem Messer in der Hand.

Ich wollte meine Männlichkeit abschneiden, alles retournieren, um diese Gefühle nicht mehr zu spüren, diese Sehnsucht, dieses Verlangen nach Haut, den Druck eines anderen Körpers. Das Verschmelzen, Eins werden, sich und den anderen spüren, brachte mich um den Verstand. Ich wollte mich von all dem befreien. Was dachte ich mir nur dabei? Auch wenn wir nichts Falsches taten, bröckelte mit jedem Gedanken etwas von mir ab.

Ich setzte an, wartete, betrachtete mich im Spiel. Da war er, dieser Blick, den ich endlich verstand: Verlangen. Ich tat einen Schnitt, oberflächlich. Die Stelle brannte, dickes Blut tropfte auf die Fließen. Ich legte das Messer beiseite, desinfizierte und klebte ab. Was für ein Idiot ich doch war. Meine Aktion änderte nichts, auch wenn ich es durchgezogen hätte. Es ging schon lange nicht mehr nur ums Körperliche. Ich zog mich wieder an, dann erschien eine Nachricht auf meinem Smartphone.

„Du hast meine Frage von vorhin gar nicht beantwortet.“

Ich setzte mich, laß die Nachricht wieder und wieder. Dann tippte ich mit klopfendem Herzen: „Du bist jemand, der unter die Haut geht, einen berührt, Spuren hinterlässt und da bleibt.“

Eine Stunde später antwortete sie: „Wann sehen wir uns wieder?“

 
 
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Desire